23.05.2021 | 7:15 Uhr | 155 km | 2.310 Hm+ | 2.310 Hm- | (Pfingstausflug) |
Wie haben sich doch die Freizeitaktivitäten in den letzten rund 150 Jahren geändert. Während man im 19. Jahrhundert noch ausgedehnte Reisen zum Mittelpunkt der Erde unternahm, wie es Jules Verne in "Voyage au centre de la terre" dokumentierte, war es über das 2021er Männertags-Wochenende nicht einmal möglich den lang geplanten 625-km-Ritt zum Brocken durchzuführen. Staatliche Verordnungen zum allgemeinen Gesundheitswohl verhinderten die dafür notwendigen Übernachtungen. Gut, diesen Luxus benötigten Arne Saknussemm und später Professor Lidenbrock und seine Begleiter nicht zwingend, hatten sie doch nach ihrem Einstieg in den Krater des isländischen Vulkans Snæfellsjökull permanent ein Dach über dem Kopf - das raue Klima, welches den Brocken mit Island eint, war somit für deren Vorhaben nicht relevant.
Aufgrund des detailierten Reiseberichts scheint eine Reise zum Mittelpunkt der Erde generell für Radtouren auszuscheiden. Das hat das Planungsbüro um Tilo sicherlich auch so zur Kenntnis genommen, als es darum ging mal wieder ein Alternativkonzept für die entgangenen Gesäß- und Schulterschmerzen zu entwerfen. Nun macht man sich am Arbeitsplatz von Tilo, dem im thüringischen liegenden Mörsdorf, keine Gedanken um den Mittelpunkt der Erde, schließlich residiert man unweit des überaus wichtigen Verkehrsknotenpunktes Hermsdorfer Kreuz am sogenannten "Nabel der Welt". Dieser Zentralismus schreit regelrecht danach, in weltumspannenden Sphären zu denken - doch Tilo hat sich sein bißchen Detail für Nebensächlichkeiten erhalten. Warum also den anderen nicht eine Pfingstpartie zum Mittelpunkt von Sachsen vor die Füße werfen? Zumal es davon auch noch zwei offiziell publizierte Reiseziele gibt.
Da gibt es einmal den physikalischen Mittelpunkt - anschaulicher als Schwerpunkt von Sachsen bezeichnet. Er balanciert, bildlich gesehen, die Landkarte des Freistaates auf einer Nadelspitze aus. Dementsprechend ist auch die im Nossener Stadtteil Deutschenbora aufgestellte Stele kreiert. Der weit aus bekanntere Mittelpunkt sind die geographisch erfassten Koordinaten im Tännichtgrund des Tharandter Waldes. Vor der Diebskammer am Colmnitzbach steht die entsprechende Granitstele dafür, wobei sich der rechnerisch ermittelte Punkt rund 250 Meter östlich befindet. Es gibt auch noch weitere Mittelpunkte, wie den, des ehemaligen Königreichs Sachsens oder den, des größten geometrischen Kreises. Doch dann kämen wir ja aus dem Angebot von Reisezielen gar nicht mehr raus, vor allem liese sich die Liste unbegrenzt fortsetzen: moralischer Mittelpunkt Sachsens (definitiv der Sächsische Landtag, wenn man den offiziellen Nachrichten Glauben schenkt), kulinarischer Mittelpunkt Sachsens (sicherlich die Bockwurst-Bude am Bahnhof xy oder der mittlerweile illegale Biertrinkertreff in städtischer Parkanlage), sportlicher Mittelpunkt Sachsens (da gibt es anhand der persönlichen Lieblingssportvereine auch wieder mehrere Möglichkeiten) oder eben der tagesaktuelle Mittelpunkt Sachsens (das verwirrende Zahlenwerk zum behördlichen Maßnahmenkatalog), welcher wiederum nur virtuell existiert.
Die Sturmböen des Vortages, wie man sie sonst nur vom Brocken oder eben vom Snæfellsjökull kennt, haben sich gelegt. Der Tag präsentiert sich im besten Radfahrerwetter und der Einstieg in den Pfingstausflug ist zwischen den Häuserschluchten des Chemnitzer Sonnenbergs gewählt. Zu Dritt verlassen wir die Stadt über Euba nach Niederwiesa ins Zschopautal nach Braunsdorf. Dort treffen wir zufällig noch auf zwei Radtouristen, welche sich unserem Vorhaben spontan anschließen - natürlich mit dem verordneten Abstand zu Ute, Tilo und mir. Es gibt also kein Windschattenfahren, gar noch durch die Anwendung der sonst angewandten Form des "Belgischen Kreisels", sondern nur entspanntes Jeder-für-sich-Pedalieren ohne jegliche Formation. Trotz dieses für Radsportler halbherzigen Metermachens sind wir "über die Dörfer" (Hausdorf, Langenstriegis, Riechberg, Kleinvoigtsberg) nach Nossen fahrend, im Zeitplan zu schnell. Die Eisdiele in Eula hat jedenfalls noch die Rollos unten. Eine halbe Stunde Wartezeit können wir uns aber nicht leisten und treten daher weiter Richtung erstes Ausflugsziel.
Dieser erste Anlaufpunkt befindet sich nur ein paar Straßenzüge weiter in Deutschenbora: der physikalische Schwer- oder Mittelpunkt des Freistaats ist auf einem Nebenweg des Nossener Stadtteils festgelegt worden. Eine Meßmarke auf dieser Straße markiert die genauen Koordinaten, die ein paar Meter daneben mit einer Stele versinnbildlicht werden. Die mitgeführten Fotoapparate gehen jetzt an ihre Belastungsgrenze, schließlich will jeder der Reiseteilnehmer diesen Ort in den unterschiedlichsten Posen für sich und die Nachwelt konservieren. So werden sportlich anmutende Verrenkungen gemacht, welche sicherlich mehr Kraft kosten, als die bisherigen Kilometer dem Körper abverlangten.
Ungewohnt "trocken" (erst bei Kilometer 102 ist eine flüssigkeitsspendende Tankstelle an Tilos Reiseroute plaziert!) setzen wir unseren Ausflug Richtung Tharandter Wald fort. Über Hirschfeld, Reinsberg, Dittmannsdorf, Oberschaar und Niederschöna gelangen wir nach Naundorf. Am dortigen Viadukt wechseln wir von der Straße auf eine ehemalige Bahnstrecke, die jetzt als Rad- und Wanderweg fungiert. Wo früher die Schmalspurbahnen zwischen Klingenberg-Colmnitz und Oberdittmannsdorf fuhren, nehmen wir die letzten Meter zu Ausflugsziel Nr. 2, dem geographischen Mittelpunkt Sachsens. Dort ist (im Gegensatz zu Deutschenbora) richtig was los. Ungewohnt hoher Publikumsverkehr herrscht hier mitten im Wald - schließlich will hier jeder mal im/am Mittelpunkt stehen. Für das Erinnerungsfoto an der Mittelpunkt-Stele braucht man daher schon fast einen im voraus festgemachten Termin, so wie man es aus dem derzeit richtigen Leben kennt. Doch auch für diesen Fall hat Tilo vorgesorgt und gleich mehrere Zeitpunkte für uns reserviert. So lässt sich auch hier vortrefflich viel Schabernack in Bildform bannen, während die Warteschlange der späteren Fototermine ungeduldig unserem Treiben zusehen muß.
Mit trockenem (und daher leicht dickem) Hals verlassen wir auch diese Sehenswürdigkeit. Wir fahren zurück ins Tal der Bobritzsch und hätte Ute nicht die Augen offen gehalten und einen Imbiß entdeckt, hätte die Tour sicherlich einen sehr faden Beigeschmack erhalten. So kann aber diesem Makel mit Bier und Fischbrötchen entgegengewirkt werden.
Die Runde scheint zur Wohlfühlausfahrt auszuarten, wenn da nicht zwischen Oberbobritzsch und Weißenborn ein ordentlicher Wetterumschwung dazwischen gekommen wäre. Die aufgezogenen Pobel am Himmel machen ernst. Es schüttet, was die Wolken hergeben! Der Regen prasselt mit voller Härte ins Gesicht (und wenn der Helm am Lenker klemmt, auch auf die vom spärlichen Haar bedeckte Platte) - es scheint die "Hölle von Weißenborn". Doch Siggi vom zweiköpfigen "Anschlußkader" verbinden ganz andere Erinnerungen mit diesem Begriff. Er legte einst seine Feuertaufe als Schiedsrichter in der Frauenhandball-Verbandsliga in dieser Ortschaft ab - und das als zweiter Chemnitzer Schwarzkittel beim Auftritt des HV Chemnitz. Kein leichter Tag ... jeder seiner Pfiffe schallte (gefühlt) tausendfach zurück. Er konnte es dem fanatischen Heimpublikum einfach nicht recht machen. Wenigstens attestierte ihm der Trainer der letztlich klar unterlegenen Heimmannschaft eine tadellose Arbeit. Dies alles gibt er zum besten, als wir in einem Buswartehäuschen Schutz vor dem Unwetter finden. Hier fehlt nur noch ein knisterndes Kaminfeuer und das dazu passende Getränk - Feuerzangenbowle fällt mir da spontan ein. Warum, weiß ich jetzt auch nicht!
Wieder in der Realität angekommen, müssen noch ein paar Hügel und genug Asphalt genommen werden. Garniert wird das restliche Tagesprogramm immer wieder durch kurze intensive Regenschauer, einem Verhauer meinerseits (weil ich durch Abblichten verschiedener Gotteshäuser mal wieder den Anschluß ans Peloton verpasste) und selbstredend durch eine von Siggis gern praktizierten HU's. Diese legt er zwischen Erzengler Teich und Brand-Erbisdorf ein. Es ist mal wieder das Hinterrad. Wie so oft! Doch die dafür notwendigen Handgriffe sitzen bei Olaf und ihm, so daß wir aus sicherer Entfernung dieser Hauptuntersuchung beiwohnen.
Kontrollzwang schön und gut, aber nicht, wenn sich das nächste Naß von oben ankündigt: Tilo faselt zwar etwas von dem am dunklen Wolkengebilde eingekerbten Korridor, der über unserem weiteren Weg thronen würde und uns so vor einer Bewässerung bewahren würde - doch seine Durchhalteparolen waren auch schon mal besser. Natürlich regnet es nach Siggis erfolgreichen Werkstatt-Termin ebenfalls im sogenannten Korridor! Dieser kräftige Schauer ist wenigstens bei Kilometer 102 plaziert, dem einzigen Getränkepunkt der Runde!
Weitere Schauer begleiten uns auf dem Weg über Langenau, Gahlenz und Falkenau nach Flöha. Über die Struth gelangen wir nach Euba und wieder zurück zum Ausgangspunkt. Im normalen Leben hätte man im Anschluß sicherlich noch in einem Kleingarten oder einer Kneipe den Tag auswerten können - ohne Feuerzangenbowlen-Geschichten von anno dunnemals, dafür mit einheimischem Bier und messerscharfem Essay. So aber verstreuen wir uns schnell wieder in alle Himmelsrichtungen und suchen die schützenden heimischen vier Wände auf. Per gemeinschaftlicher Videoschalte und Individualkommunikation über verschiedene Messenger ist dort eine zeitgemäße sichere Analyse möglich.
Fazit: Es muß nicht zwingend die Reise zum Mittelpunkt der Erde sein. Auch auf der Erdoberfläche gibt es neben Snæfellsjökul und Brocken noch genügend abzuhandelnde Reiseziele. Selbst vor der Haustür liegt da noch einiges brach, für das man im Laufe der Zeit schon den Fokus verloren hat. Mal sehen, was Tilo als nächstes auf seinem Reißbrett zurechtfriemelt ... vielleicht eine Radtour zum Bernsteinzimmer oder zum Heiligen Gral - zuzutrauen wäre es ihm.