06.06.2020 | 7:45 Uhr | 100,3 km | 1.628 Hm+ | 1.628 Hm- | (Trainingsfahrt) |
Laut einer Überlieferung aus dem Mittelalter, welche Dik Browne vor Jahrzehnten illustrierte, hat es sich irgendwo in Norwegen zugetragen, daß der Wikinger Hägar nach einem seiner Raubzüge seiner Frau Helga einen in Paris demontierten Wasserhahn präsentierte und sich nun wunderte, daß aus ihm kein Wasser mehr sprudelte. Damals war Allgemeinbildung eben noch zweitrangig und dementsprechend hoch waren die Fehlinterpretationen von diversen Alltagsgegenständen. Doch auch in der Gegenwart schwindet dieses Hintergrundwissen wieder. Heutzutage kann man zwar einen notwendigen Bezug von Wand und Armatur für einen funktionierenden Wasserfluß herstellen, deren Zusammenhang wird jedoch nicht hinterfragt. Die Vermutung, das kühle Nass aus der Badarmatur wird aus den Hohlräumen des Ziegelwerks der Hauswände gewonnen, ist daher naheliegend ...
Um diese Bildungslücke zu schließen, hat Tilo die heutige Radausfahrt auf ein Minimum an Kilometern reduziert und den Fokus auf die drängende Frage gelegt: Woher beziehen die in Chemnitzer Haushalten befindlichen Wasserhähne ihr Trinkwasser? Mit so einer direkten Konfrontation des Anliegens hat nun wirklich niemand in unserer Radrunde gerechnet. Betretene Mienen, eisernes Schweigen - Antworten hat niemand parat. Daher muß nun etwas Mäßigung herhalten und Tilo führt uns ganz sachte in die Materie des Chemnitzer Wasserkreislaufes ein. Er legt daraufhin die erste kurze Etappe zur Talsperre Euba. Die ist seit langem schon deaktiviert und hatte auch davor nichts mit der Trinkwasserversorgung der Stadt am Hut. Als Kind war ich hier ab und zu mal baden, doch als Badegewässer wurde der Damm nun mal nicht errichtet. Die Eubaer Talsperre sicherte nämlich so gut es ging die Wasserversorgung des Rangierbahnhofes Hilbersdorf ab, wo früher die Dampfloks mit täglich rund 4.000 Kubikmetern Wasser "betankt" wurden. Heute soll vordergründig der drohende Verfall der (mit im nahen Eibsee gebrochenen Steinen gemauerten) Stauanlage abgewendet werden, damit die Talsperre vielleicht in naher Zukunft wieder für Erholungszwecke genutzt werden kann.
Nach so einer Informationsflut gibt uns die Reiseleitung erstmal ein paar Kilometer zum Sortieren der Fakten, denn für die themenbezogenen Sachverhalte müssen wir noch ein paar Kilometer und noch mehr Höhenmeter ins Erzgebirge. Was liegt da näher, als die Route über die Struth nach Flöha, mit der anschließenden Bergwertung auf dem Schellenberg, im Burghof von Schloß Augustusburg, zu wählen? Dem langgezogenen Anstieg nach Grünberg folgt der steile Schlußakkord auf Kopfsteinpflaster in der "Innenstadt" von Augustusburg. Nicht ganz ohne, diese Form des "Kopf-frei-bekommens" für die nächste Lektion. Dafür steht uns nach kurzer Verschnaufpause ein langes Ausrollen (ein 14%iger Gegenanstieg inbegriffen) ins Flöhatal bei Grünhainichen bevor. Dort biegen wir flußaufwärts zum ersten "richtigen" Tatort der Spurensuche im bisher ungelösten Fall "Chemnitzer Trinkwasser" ab.
Im Anstieg zwischen Rauenstein und Reifland ist noch eine kleine Rast eingebaut, um sich auch mal mit anderen Dingen abzulenken - wie z.B. der Aussicht auf Schloß Rauenstein oder dem dahinter niedergehenden Regen, ehe es ernst wird. Denn kurz darauf präsentiert uns Tilos sein zweites Anschauungsobjekt. Wir stehen oberhalb der Talsperre Saidenbach, welche im Verbund mit den noch folgenden Talsperren Neunzehnhain I und II sowie Einsiedel steht. Hier beginnt u.a. das Aufsammeln des sogenannten Rohwassers (unbehandeltes Wasser, bevor es zu Trinkwasser aufbereitet wird) aus Haselbach, Saidenbach, Lippersdorfer Bach und Hölzelbergbach in einem Niederschlagsgebiet von rund 75 Quadratkilometern. Die dafür notwendige 48 Meter hohe Sperrmauer wurde zwischen 1929 und 1933 für 21.500.000 Reichsmark von drei Baufirmen errichtet. Dabei kamen acht Arbeiter ums Leben.
Durch den Wald rollen wir zurück ins Flöhatal, um auf der gegenüberliegenden Seite das Schloß Rauenstein zu bezwingen. Die um 1200 erbaute Burg befindet sich in Privatbesitz und ist deshalb nur durch den um 1630 angelegten Straßentunnel zu "durchfahren". Über Lengefeld gelangen wir in den Bornwald und danach zur nächsten, für unseren Ausflug relevanten Talsperre - der Leutenbach-Talsperre an der Klatzschmühle, kurz: Neunzehnhain I. Diese ist mit einem hauptsächlich bergmännisch angelegtem Stollen sowie den 1907 errichteten Rohrbrücken (Aquädukten) über die Zschopau und in Krumhermersdorf mit der Talsperre in Einsiedel verbunden. Die Untere Neunzehnhainer Talsperre wurde im Jahr 1908 fertiggestellt und war zu diesem Zeitpunkt für den ständig steigenden Wasserbedarf der Industriestadt Chemnitz schon gar nicht mehr ausgelegt. Deshalb begann man drei Jahre später mit dem Bau der wesentlich größeren Oberen Neunzehnhainer Talsperre, südlich der gleichnamigen Siedlung, deren Ersterwähnung aus dem Jahr 1550 stammt und heutzutage nur noch aus zwei Gebäuden (der ehemaligen Hammermühle und dem gegenüberliegenden, 1704 erbauten und nun dem Verfall preisgegebenen Haus) besteht.
Das in der Talsperre Neunzehnhain II aufgefangene Wasser von Lautenbach und Gänsebach ist qualitativ das hochwertigste in Sachsen. Trotzdem muß es als Teil von rund 20 Millionen Kubikmetern Wasser, die das Talsperrenverbundsystem aus den bisher von uns "besuchten" Talsperren jährlich bereitstellt, als Rohwasser zur Endbehandlung ins Wasserwerk Einsiedel.
Noch rund zwei Kilometer fahren wir auf asphaltiertem Waldweg um das Gewässer und deren Zuflüsse, ehe wir am Parkplatz der Baumschule Heinzebank auf die B101 (ehem. Silberstraße) treffen. Jetzt wird es wesentlich unruhiger und spätestens mit dem Abbiegen auf die B174 (ehem. Salzstraße) Richtung Marienberg richtig stressig. Auch wenn Marienberg seit Jahren nicht mehr direkt an der Bundesstraße Richtung Tschechische Republik liegt, ist das Verkehrsaufkommen in der Stadt doch recht hoch. Dadurch bedingt, reißt unser Quartett auseinander und findet erst auf der (wegen Baumaßnahmen gesperrten) B171 nach Gehringswalde wieder zusammen. Der Abstecher zur (fast am Wegesrand liegenden) Drei-Brüder-Höhe ist Pflicht - ebenso der Besuch des dazugehörigen 25,4 Meter hohen Aussichtsturms, der 1994 eingeweiht wurde. Wir beobachten dabei das Treiben auf dem benachbarten Flugplatz von Großrückerswalde und nehmen in der Ferne den bunten Schornstein von Chemnitz (dem höchsten Bauwerk Sachsens) wahr. In der Schankwirtschaft wird dann noch der bestehende Hunger und Durst erfolgreich bekämpft, ehe es auf den Rückweg nach Chemnitz geht.
Über Gehringswalde, Warmbad und Großolbersdorf gelangen wir in Scharfenstein ins Zschopautal, welches wir in Wilischthal über Weißbach zur B180 verlassen. Auf der alten B174 gelangen wir an der Siedlung Ruhebank vorbeifahrend zum Gasthof Goldener Hahn, wo uns der Abzweig hinab zur letzten Station unserer Exkursion, zur Talsperre Einsiedel bringt. Sie ist die drittälteste Deutschlands und staut neben der geringen Wassermenge des Stadtguttalbaches das Rohwasser von Saidenbach sowie Neunzehnhain I und II, welches im unterhalb der Staumauer gelegenen Wasserwerk aufbereitet und über einen Stollen ins Wasserleitungsnetz von Chemnitz zugeführt wird.
So wie das Wasser, sind auch wir nicht mehr lange bis Chemnitz (zumal Einsiedel seit 1997 ein Stadteil ist) unterwegs. Dort wird beim Eintreffen im trauten Heim sofort die Wasserhahnfunktion überprüft und man glaubt, das dabei ausströmende Wasser, welches uns in den erzgebirgischen Talsperren heute schon mal zu Gesicht kam, wiederzuerkennen und bestenfalls sogar den jeweiligen Örtlichkeiten zuordnen zu können. Das geht natürlich nur, wenn man sich ausgiebig mit dieser Materie beschäftigt und ein Auge dafür "entwickelt". Doch Tilos Heimatkunde-Tour war dafür recht hilfreich. Das Einsiedler Bier, welches zum Ausklang des Tages die Runde macht, hat jedoch nichts mit diesem Wasserkreislauf zu tun. Zum Brauen wird nämlich nicht auf das normale Leitungswasser zurückgegriffen, sondern das lange im Gestein gelagerte Tiefenwasser verwendet, welches aus mehreren Brunnen in Einsiedel für die Produktion herangezogen wird. Dieses Wasser ist mit Mineralien und Spurenelementen durchsetzt und daher schon fast einem Heiltrank gleichzusetzen. Vielleicht hätte sich deshalb Hägars Helga über einen Kasten Bier als Mitbringsel mehr gefreut?
Bleibt festzuhalten: Das Chemnitzer Trinkwasser wird unter immensen Aufwand irgendwo im Erzgebirge in großen Speicherbecken gesammelt und von dort in Stollen und Rohren gen Chemnitz geleitet. Bevor es an die Haushalte verteilt wird, filtriert man es und nutzt zu dessen finalen Transport zum Verbraucher meist Leitungen, welche innerhalb der Häuserwände verlegt sind - also ist die Annahme mit dem "Wasser aus den Hohlräumen des Ziegelwerks" wiederum nicht sooo falsch.
Euba | Saidenbach | Neunzehnhain I | Neunzehnhain II | Einsiedel | |
Baujahr | 1911-1914 | 1929-1933 | 1905-1908 | 1911-1914 | 1891-1894 |
Einzugsgeb. | 1,5 qkm | 75 qkm | 24,2 qkm | 13,5 qkm | 2,7 qkm |
Höhenlage Mauerkrone | 382,8 müNN | 440,8 müNN | 431,5 müNN | 526,4 müNN | 385,7 müNN |
Bauwerksvolumen | 20.000 cbm | 203.000 cbm | 19.400 cbm | 51.600 cbm | 23.600 cbm |
Stauraum | 0,15 Mio cbm | 22,4 Mio cbm | 0,5 Mio cbm | 2,97 Mio cbm | 0,3 Mio cbm |
Stauoberfläche | 3 ha | 146 ha | 7 ha | 29 ha | 4 ha |
Baukosten | 21,5 Mio RM | 1,3 Mio RM |
Fotos: Siegfried Beyer (1), "Strava" (1), Tilo Kozlik (8), Thomas Delling (12)