16.04.2023 | 8:10 Uhr | 135 km | 1.650 Hm+ | 1.650 Hm- | Genußtour |
Fahrradfahren ist ja nun auch nicht mehr das, was es einmal war. Heutzutage wird mit diesem Begriff allerhand Schindluder getrieben. Da gilt man schon als weitsichtig-weltrettender Zeitgenosse, wenn man mit seinem sperrigen Lastenrad den Rad- bestenfalls gar den Fußweg verstopft oder erntet sportlichen Lorbeer, wenn man mit seinem Pedelec den täglichen Arbeitsweg bestreitet. Die Erwähnung der elektrischen Unterstützung bleibt bei dieser Art des Radfahrens stets unerwähnt - dies käme ja einem zugegebenen Dopingvergehen gleich! Richtige Radfahrer (zu denen ich mich allerdings aus vielerlei Sicht nicht zähle) schämen sich dagegen ihrer Aufputschmittel nicht und benennen diese ganz offen: da wird noch ganz herkömmlich mit Elektrolyten gearbeitet, statt sich um den Füllstand der Fahrzeugelektrik zu kümmern.
Nun kann man die zum Radfahren benötigten legalen Elektrolyte jederzeit und überall erwerben, man kann sie sich aber auch verdienen, indem man ihnen mit dem Fahrrad ein Stück entgegenkommt. Um lange Transportwege der Bierkutscher, ob nun mit E-betriebenen Cargobike oder dieselunterstütztem Lastkraftwagen zu vermeiden, haben Tilo und Siggi diese Form des praktizierten Umwelt- und neuerdings auch des Klimaschutzes (?) vorgeschlagen. Zudem saßen Ute und ich dieses Jahr auch noch gar nicht im Rennradsattel - beide Notwendigkeiten konnte man also gezielt miteinander verbinden.
Osterpyramide in Steinbach / Schankstube in Natschung
Von Altchemnitz strampeln wir das Zwönitztal bis Dittersdorf, um dann über Weißbach und Wilischthal ins Tal der Zschopau zu gelangen. Diesem folgen wir flußaufwärts über Scharfenstein bis Wolkenstein. Danach setzen wir unsere Fahrt im Preßnitztal bis Steinbach fort, nur unterbrochen durch einen ersten Imbiß in Boden (Koffein aus Übersee bzw. Mineralstoffe aus Oberscheibe).
Vom Abzweig aus dem Preßnitztal nach Reitzenhain summieren sich die Höhenmeter nun etwas schneller, um dann "nur noch bergab" Richtung Natschung (Načetín) zu rollen - so die Aussage von Reiseleiter Tilo. Entlang der sächsisch-böhmischen Grenze, vorbei am Roten Teich (Červeny rybnik) muß ich zwar ab und zu 'runterschalten, was mir sonst bei Bergabfahrten nicht passiert. Aber egal, Tilo motiviert seine Gäste eben anders.
Ochsenstaller Teich / Alter Teich
Es bedarf, trotz Tilos Streckenfehlinterpretation, keiner zu großen Anstrengung und wir biegen alsbald in Natschung ein. Die Gastwirtschaft ist in einer Seitenstraße (von insgesamt drei) versteckt. Unweit des Gebäudes plätschert die Natzschung (Načetínsky potok) vor sich hin, welche gut 100 Meter bachabwärts die natürliche deutsch-tschechische Grenze (bis zu ihrem Einmünden in die Flöha bei Grünthal) bilden wird.
Elektrolyte in Halblitergläsern (pullitr) der Königlichen Brauerei Kruschowitz (Královsky pivovar Krušovice) stehen im Wintergarten der Schankwirtschaft für uns bereit. Auch wenn es sich bei diesem für Radfahrer immens wichtigen Betriebsmittel um ein Großkonzern-Industriebier (von Heineken) handelt, der für Böhmen typisch kräftig-malzige Geschmack wiegt uns dann doch in Sicherheit. Die Sicherheit, die der ausgelaugte Körper jetzt braucht: verlorengegangene Kräfte wurden vollständig durch flüssige Mineralstoffe ersetzt, so unsere wissenschaftliche Analyse des Kneipenbesuchs. Die Radtour beginnt nach Verlassen des Wirtshauses quasi wieder bei Null.
Wir nehmen die Senke durch Kallich (Kalek) und meistern den folgenden Anstieg durch den Wald nahezu mühelos. Wir passieren den Ochsenstaller Teich (Volarensky rybnik), die 825 Meter hohe Feueressenkoppe (Strázce) und den Alten Teich (Rudolicky rybnik). Es schließt sich die Schußfahrt nach Brandau (Brandov) an, bei der rund 300 Höhenmeter vernichtet werden.
Der Schweiß muß aus den Haaren! / Tilo, so sieht "bergab" aus!
Dieser Abschnitt von Kallich ist uns ja noch aus dem Vorjahr bekannt, als wir auf "Biertour" in entgegengesetzter Richtung unterwegs waren. Brandau war dabei unser erster Verkostungsort, vielleicht auch vor dem traditionellem Hintergrund des früher gern umgangenen Bierzwangs. Dieser regelte sachsenweit bis 1838 in einer festgelegten Biermeile den Genuß von nur den in diesem Bannkreis zugelassenen (gebrauten) Bieren. Da jedoch in Böhmen das "bessere" Bier hergestellt wurde, war das sogenannte Bierzechenlaufen im 17. und 18. Jahrhundert eine Art Volkssport. Man stillte demnach seinen Bierdurst außerhalb der vorgesehenen Zonen, meist hinter der Grenze. Doch das war verboten und wurde versucht zu unterbinden - mit nur mäßigem Erfolg. Die Grenznähe von Brandau bescherte damals den örtlichen Bierbrauern einen weit höheren Absatz ihres Getränks an "Uhiesige" als an Einheimische.
Brandau ... und sein "stillgelegter" Fußballplatz
Braustätten sucht man heute in Brandau vergeblich, Bier wird aber noch ausgeschenkt - auch an Nicht-Brandauer. Der Biergarten unseres letzten Besuchs ist allerdings (noch) nicht geöffnet, also versuchen wir unser Glück auf der Terrasse eines Gasthofes, welcher sich gegenüber des Sportplatzes befindet. Das Publikum ist zu 100% deutscher Nationalität. Mit einem von ihnen kommen wir etwas tiefgründiger ins (bierseelige) Gespräch: "Haribo", Fußballsachverständiger aus Olbernhau - offensichtlich Fan (oder Gesellschafter?) der FC-Bayern-München-Aktiengesellschaft und Kenner des Chemnitzer und Olbernhauer Fußballsports. All seine kniffligen Fragen zum Ballsport kann ich ihm (zu seinem Erstaunen) im locker geführten Gespräch richtig beantworten, teilweise kann ich dabei seinen Horizont noch erweitern - auch wenn wir dabei leicht vom Thema abweichen und bei Fritz Harmann oder geographischem Grundwissen landen. Das daraufhin von ihm angebotene Bier müssen wir allerdings aus Zeitgründen ausschlagen.
Die sympathische Seite eines Großkonzerns: "Haribo", der bodenständige Bayern-Fan
Mit einer Klobasa (dem fetttriefenden böhmischen Wurstklassiker) und einem Excelent von Gambrinus der Pilsner Urquell (Plzensky Prazdroj a. s.) im Bauch sehen wir der bevorstehenden Heimreise gelassen entgegen. Die Speicher sind demnach gefüllt und der Grundtenor der Reise ist "vorwiegend bergab". Wir biegen hinter der Grenze ins Flöhatal ein (nehmen Olbernhau komplett mit) und verlassen es später Richtung Wernsdorf. Bei Forchheim lassen wir die Talsperre Saidenbach links liegen und gelangen über Lippersdorf und Eppendorf ins Tal der Großen Lößnitz. Vor einem starken Regenguß finden wir in einer Schutzhütte Unterschlupf, ehe wir weiter bis ins untere Flöhatal radeln können. Danach trennt sich Siggi in Flöha von unserem Quartett, um seinen Heimweg direkter gestalten zu können. Zu dritt nehmen wir noch die Ortslagen Niederwiesa und Euba, ehe sich am Ortseingang von Adelsberg auch Tilo verabschiedet.
Fazit: gelungener Saisonauftakt im Rennradsattel für Ute und mich (bei Siggi und Tilo ist eine klassische Radsaison nicht erkennbar, da sie scheinbar immer auf dem Bock sitzen), perfekte Wahl der Verpflegungspunkte auf der Strecke (wobei man in Kallich die Dichte der böhmischen VP's hätte noch etwas erhöhen können) und dadurch ausgewogenes Management des Elektrolythaushaltes und qualitativ bestmögliche Auffrischung der Fettspeicher. Tagesziel erfüllt!