21.05.2022 | 6:00 Uhr | 73,9 km | 1.867 Hm+ | 1.382 Hm- |
21. Mai 2022, irgendwo auf dem Thüringer Höhenweg Nr. 1 - der ausgedehnte Streifzug durch Wald und Flur artet mittlerweile zu einem nervenaufreibenden Desaster aus. "Diesen Weg auf den Höh'n bin ich oft gegangen, Vög'lein sangen Lieder ..." - der Refrain des "Ich wand're ja so gerne am Rennsteig durch das Land"-Klassikers spult nun schon seit Stunden in Endlosschleife durch meinen Kopf. Ein Übergehen in den Laufschritt ist daher auch unmöglich und Wandern erscheint als das einzig probate Mittel, um das "schönste Ziel der Welt" in Schmiedefeld überhaupt noch zu Gesicht zu bekommen. Manche Wettkämpfe sind eben einfach zu früh im Jahr und die dafür benötigte Vorbereitungszeit zu knapp, um da sportlich gegenhalten zu können.
Trotz der zeitlichen Enge ist es mir immerhin gelungen, satte 75 Laufkilometer mit 780 Höhenmetern im Anstieg in mein diesjähriges Trainingstagebuch zu pressen. Fünfmal war ich dafür aktiv, letztmalig am 3. April mit einem flachen Fünfzehner. Da muten die im selben Zeitraum erwanderten 184 Kilometer mit 4.030 Höhenmetern regelrecht gewaltig an - schließlich beansprucht Wandern ja auch einen viel größeren zeitlichen Rahmen wie Laufen. Dieses angeeignete "Wissen" muß ich nun Wohl oder Übel zu Rate ziehen müssen, denn die Einsparungen beim Lauftraining fallen mir beim diesjährigen Rennsteiglauf schon ziemlich zeitig auf die eh schon viel zu schweren Füße.
Mal ein etwas anderes Startfoto / Letzte Startreihe - der Druck von hinten fehlt!
Doch der Reihe nach: auch Ute hat im Frühjahr die Beine schön still gehalten, als es um entsprechende Laufübungen ging. Daher verweigert sie mir auch die Gesellschaft während meines 12. Rennsteiglaufes - den 2009er Halbmarathon habe ich da mal nicht mitgezählt. So gibt sie mir die Chance in Sachen "Supermarathon" mit ihr gleichzuziehen, damit dann unser gemeinsamer "13." zum 50. Rennsteiglauf am 13. Mai 2023 wieder, wie gewohnt über die Bühne gehen kann. Natürlich erntet sie für ihren Nichtantritt in Eisenach Lob von allen Seiten, schließlich bedarf es keiner zu großen hellseherischen Fähigkeiten, die Rache der Symbiose von Distanz und Profil des Rennsteigs an unvorbereiteten Möchtegern-Bezwingern vorherzusagen. Der Mensch lernt meist nur durch Schmerz und so soll es dann auch geschehen! Zumindest wird es ordentlich schmerzen - ob daraufhin ein Lernprozess stattfindet, steht jedoch in den Sternen.
Doch irgendwie hält der GutsMuths-Rennsteiglaufverein als Veranstalter auch für die Untrainierten die Tür ein wenig offen, indem er für die 73,9 Kilometer immerhin einen halben Tag zum Bewältigen dieser Distanz einräumt. Desweiteren gehört das oben zitierte Rennsteiglied von Karl Müller (Worte) und Herbert Roth (Musik) zur Inventarliste der Veranstaltung und schallt einem dabei an jeder Ecke und zu jeder Gelegenheit entgegen. Fazit: das Wandern wird hier zumindest geduldet und nicht öffentlich als körperliche Schwäche verpönt.
"Ich bin ein lust'ger Wandersmann, so völlig unbeschwert ..." - Rennsteig-Impressionen
Freitagabend gibt es für 80 Euro die Startnummer und das berühmt-berüchtigte Kloßessen im Festzelt auf dem Eisenacher Markt. Man trifft ehemalige Weggefährten, nimmt dabei aber auch die mittlerweile stark ausgeprägten körperlichen Unterschiede zwischen strammen Wandersmann und "drahtigem" Rennsteigläufer wahr. Naja, um die Wette laufen war früher und selbst da hat es nie gereicht! Warum also jetzt im Alter die Karten nochmal neu mischen?
Am Sonnabendmorgen, kurz vor 6 Uhr treffen Ute und ich am Marktplatz ein. Einen Kleiderbeutel für Schmiedefeld brauche ich nicht abzugeben, denn Ute fährt mit dem Caddy zum Ziel und da erspare ich mir den zu erwartenden schweren Gang zur Gepäckwiese. Ich muß mich auch nicht in die vorderen Reihen des Startblocks kämpfen, wie in früheren Jahren, als es noch um (letztendlich) belanglose Zielzeiten ging. Als einer der Letzten überquere ich heute die Zeitmeßmatte unter dem Startbogen. Das Anfangstempo ist sehr moderat und hilft beim Kräftesparen ungemein. Na dann: "Gut Runft!", wie sich die Wanderer auf dem Rennsteig zu grüßen pflegen.
Wie fast auf den Tag genau vor 120 Jahren (22. Mai 1902) windet sich eine Menschenschar vom Eisenacher Marktplatz zur Göpelskuppe hinauf. Damals wurden rund 2.000 Leute gezählt, welche der feierlichen Eröffnung des Burschenschaftsdenkmals beiwohnen wollten. Heute sind es nur rund 1.000 Läufer und ein Wanderer, die diese erste Sehenswürdigkeit auf ihrem Weg nach Schmiedefeld passieren.
Bier als Bückware unter dem VP-Tisch? / Nein, als lebenserhaltender Durstlöscher für alle!
Es geht äußerst schleppend, aber es "läuft" (wenn man denn bei einem Schnitt von 6:30 bis 7 Minuten von "Laufen" schreiben darf). Kurz hinter dem Verpflegungspunkt Glasbachwiese wechselt der bis dahin "benutzerfreundliche" Bodenbelag in einen stark verwurzelten Waldweg. Der daraufhin folgende Test ist einfach aber er gelingt: man spannt in Sichtweite der Streckenführung ein Plakat zwischen die Bäume und ordnet den Text darauf so an, daß ein mehrfaches Hinsehen von Nöten ist, um dessen Botschaft zu entschlüsseln. Dies gelingt mir natürlich nicht - nur meine (von oben unbeobachteten) Füßen nehmen den Sinn der querliegenden Wurzelstränge gern an und schicken mich daraufhin zu Boden. Anfängerfehler! Prüfung nicht bestanden! Außer einem kurzzeitig dicken Hals sind keine Veränderungen am Körper feststellbar - die Option, diesen Vorfall als "leistungsmindernd" beim Erläutern der Zielzeit heranzuziehen, halte ich mir jedoch erwartungsgemäß offen.
Mit der Halbmarathonmarke wechsle ich nach 2:28 Stunden erstmals in den Wanderschritt. Tempomäßig gibt es da aber kaum einen Unterschied auszumachen. Den Großen Inselsberg (km 25,2) passiere ich nach 3:07:33 Stunden - vier Minuten vor der vorjährigen Zwischenzeit. Geht hier nach dem 2021er Debakel vielleicht doch noch mehr? Auf Utes Frage, wann sie denn mit mir in Schmiedefeld rechnen kann, sagte ich "unter zehn Stunden", meinte aber "unter neun". Doch dafür müsste ich deutlich an Fahrt zulegen und danach sieht es nicht aus. Die Zwischenzeiten verschieben sich nun immer mehr in die verkehrte Richtung: Ebertswiese (km 37,5) 4:42:41 Stunden, Marathon 5:25 Stunden und bis Kilometer 50 benötige ich 6 Stunden und 35 Minuten. Da liege ich schon 14 Minuten hinter dem Vorjahreswert, der den bis dato schlechtesten Zieleinlauf zur Folge hatte.
Wenn durch solche Unannehmlichkeiten der Stecker schon so gut wie gezogen ist, bietet der Veranstalter bei Kilometer 54 die Möglichkeit zum Aussteigen an - so eine Art Rucksackabgabestelle, wo man sich für die Folgejahre verpflichtet, diesen Rucksack (zur Ehrenrettung) wieder abzuholen, also durchzulaufen. Mittlerweile hat sich diese Komfortzone so herumgesprochen, daß für meinen "Rucksack" gar kein Platz vorhanden wäre, ich also weiterziehen muß. Es sind nur noch 19,9 Kilometer, für die ich 4:38:55 Stunden Zeit (bis zum Zielschluß) in Anspruch nehmen darf. Das sollte doch auch mit Wandern machbar sein!
"Ich wand're ja so gerne ... ins Ziel von Schmiedefeld"
Mit meinen persönlichen Zielsetzungen habe ich längst abgeschlossen. Ich genieße die Verpflegungsstände und versuche zügig zu wandern. Irgendwo bei Kilometer 67 auf einem Bergabstück kommt mir dann Ute entgegen. Auch hier wandere ich. Es geht nicht mehr - selbst bergab nicht! Die Schienbeine schmerzen bei jedem Aufsetzen, doch hier will ich jetzt nicht weiter ins Detail gehen. Selbstgewähltes Elend, da braucht man nicht auf die Tränendrüse drücken. Zum Glück kommt noch ein Bierausschank (km 69), bevor es auf die "Zielgerade" geht - natürlich auch im Wandermodus, jede andere Bewegungsform wäre Gift für die Augen der noch anwesenden Zuschauer.
Nach sage und schreibe 10 Stunden, 48 Minuten und 43 Sekunden latsche ich als 932. von 1.045 Zielankömmlingen unter dem Zielbogen zur Medaillenausgabe durch. Dieses Erinnerungsstück verschwindet gleich in der Hosentasche und der Startnummer entledige ich mich auch sogleich. So, als wäre ich hier nur Zuschauer und kein Teilnehmer. Während sich Ute um die Bestempelung der Startnummer und um das Finisher-Hemd (welches hoffentlich nicht passt, damit ich nicht in die Verlegenheit gerade, es zu tragen) kümmert, organisiere ich uns zwei Zielbier. Zu dieser eher unsäglichen 12. Rennsteig-Bewältigung gesellt sich wenig später noch die Meldung aus der Heimat vom 12. Sachsenpokalsieg der lokalen Fußballhelden. Der Tag ist gerettet!
Rennsteiglauf-Utensilien, statt Stocknadel und Filzhutanstecker
Viereinviertel Stunden über der persönlichen Bestzeit und die Beine fühlen sich an, als hätten sie diese gerade pulverisiert. Nun steht trotzdem noch ein halbstündiger Fußmarsch bis zum Parkplatz zur gegenüberliegenden Seite des Ortes auf dem Plan, wo der "etwas ruhigere" Ausweich-Campingplatz angelegt wurde. Mit den Feierlichkeiten in der neugebauten Festhalle haben wir heute nämlich nichts am Hut. Man muß auch mal mit Traditionen brechen - zwei bleiben jedoch bestehen: das übliche Bockwurstessen in der Ilmenauer Agip-Tankstelle am nächsten Morgen und natürlich dieses "bin ich weit in der Welt, habe ich verlangen, Thüüüüringer Wald nur nach diiir" für Mitte Mai 2023.