2. Trail Ticino in Airolo 2013
02.08.2013 - 22:00 Uhr - 133,19 km / 9.797 Hm+ / 9.797 Hm-
136,74 km / 9.778 Hm+ / 9.778 Hm- (laut "Livetrail.net")
Das nordwestliche Tessin (Ticino) im Val Bedretto mit dem Fluß Ticino.
Mit dem Slogan "Noch länger ... noch schöner!" wurde im Vorfeld die zweite Auflage dieses Ultrawettkampfes im nördlichen Tessin beworben. Die Strecke wurde demnach im Vergleich zur Premierenveranstaltung um 16 Kilometer verlängert und das Wetter von damaligem Dauerregen mit starken Gewittern auf wolkenlosen Himmel mit Sonnenschein und Temperaturen von über 30°C umgestellt - also von einem Extrem ins Andere!
Die Schleife um die Täler Val Bedretto und Valle Leventina wurde auch gedreht - diesmal entgegen dem Uhrzeigersinn. Wegen des Zeitlimits von nun 41 (anstatt 31) Stunden findet der Start am Freitagabend 22 Uhr "Schweizer Zeit" (wie der Sprecher verkündet) statt, d.h. die Pünktlichkeit orientiert sich eher am italienischen Zeitverständnis! Eine kurze Einleitung und Streckenbeschreibung mit Hinweisen auf das zu erwartende Wetter von Seiten des Veranstalters erfolgt vor dem mit 71 Läufern "gefüllten" Startblock in italienischer, englischer und deutscher Sprache.
Das Herunterzählen übernimmt das Teilnehmerfeld auf italienisch und mit nur zwei Minuten Verspätung geht es auf die Reise. Durch den Ort Airolo (1.150 m) und die Straßenkehre zur Talstation der Pesciüm-Seilbahn biegt der Kurs ins Bedrettotal. Die Spitzengruppe hat sich hier schon vom übrigen Feld gelöst und so kommt es, das alle anderen Läufer (dem Herdentrieb folgend) eine falsche Strecke wählen. Kaum länger, aber mit einem kurzen Steilstück durch Brennesseln, um wieder auf das Original zurückzukehren. Dort geraten Einige schon an ihre Grenzen, um diesen (ca. 15 Meter langen) Bergabsektor zu meistern.
Die Verpflegung steht bereit! Ute als 27. in der Ergebnisliste von 2012 mit Nr. 27!
Nach 30 Minuten laufen wir am "130 Kilometer"-Schild vorbei. Bis jetzt einen Zehner Schnitt? Aber wir sind doch alles ziemlich flott gelaufen? Da sind es wohl doch eher 136,7 Kilometer (wie bei der Zeitmessung angegeben), als die 133,19 (laut Ausschreibung)? Durch den Wald führt ein leicht profilierter Weg nach Fontana (1.281 m), etwas Straße und ein Stück Wiese am Fluß Ticino entlang und schon sind wir nach offiziell 8,37 Kilometern und 1:01 Stunden am ersten kleinen Verpflegungsstand in Villa Bedretto (1.362 m). Neben Wasser gibt es Gebäck und Pizza, wir beschränken uns auf die Flüssigkeitszufuhr und nehmen kurz darauf den Anstieg zur Alpe di Cavanna (1.955 m) in Angriff. Ute und ich wollen die gesamte Distanz über zusammenbleiben und uns gegenseitig motivieren, falls Schwachpunkte auftreten.
Ein gut zu laufender Pfad führt im ständigen Zickzack hinauf zu einer stark ausgespülten Forst"straße", welche auf eine Art Panoramaweg über dem Val Bedretto mündet. Jetzt heißt es wieder Fahrt aufnehmen, gebremst nur durch einzelne Bergbachquerungen (welche u.a. mit Stahlseilen gesichert sind). Die Capanna Piansecco (1.982 m) nach rund 18 Kilometern hat um 1:08 Uhr natürlich zu, deren Hüttenstempel muß also noch auf seinen "Eintrag" in mein Buch warten.
Nach 22,5 Kilometern ist an der Straßenauffahrt zum Nufenenpaß, an der Alpe di Cruina (2.002 m) das erste Zeitlimit. Wer hier bis 4 Uhr nicht durch ist, kann sich nach Airolo zurücktransportieren lassen. Wir sind kurz nach 2 Uhr an diesem ersten Gradmesser und haben uns damit ein beruhigendes (Zeit-)Polster geschaffen. Bis zur ersten großen Verpflegung müssen wir jedoch (entgegen der mitgeführten Tabelle mit sämtlichen Streckendaten) noch hoch zur CAS-Hütte Corno Gries (2.338 m). Gegen 2:45 Uhr erreichen wir diese, mit angebautem Imbißzelt und nutzen das nicht zu üppige Angebot an Speisen und Getränken. Von hier sind es jetzt immerhin 19,7 Kilometer bis zur nächsten Bewirtung, wir müssen uns also die Mägen füllen!
Nur noch 110 Kilometer! Ungewöhnlich: Wettkampfstrecke durch Kuhstallung.
Vom westlichsten Punkt der Strecke führt diese auf der gegenüberliegenden Seite des Bedrettotales Richtung San Giacomo (2.254 m). Von dessen Abstieg zur Alpe di Valleggia (1.751 m) erreichen wir kurz vor 5 Uhr das "100 km"-Schild an einer Bachüberquerung (mit Brücke!). Regelrechte Exquisit-Wege führen nun wieder nach oben, drei am Wegrand verteilte, schlafende Teilnehmer säumen dabei die breite Forststraße. An der Alm Stabiello Grande (1.819 m) trauen wir unseren Augen kaum - da geht doch wirklich die Streckenführung durch eine Kuhstallung. Ungläubige Blicke der Vierbeiner in unsere Lichtkegel der Stirnlampen, als wir deren Behausung durchlaufen.
Vorbei an der Alpe di Cristallina (1.800 m) und der eingefallenen Alpe Torta (2.225 m) führt der Weg zum Passo del Naret (2.438 m). Der dabei zu überquerende Fluß Ri di Cristallina wird mit einer eigenartigen Bretterkonstruktion "überbrückt". Sieht zwar wacklig aus, hält unserer Belastung aber stand. Mit dem Sonnenaufgang um 7 Uhr stehen wir oben auf dem Paß. Es ist zwar schon eine ganze Weile hell, aber hier strahlt uns zum ersten Mal am Tag die Sonne entgegen. "Dafür lohnen sich doch die Strapazen!", meint Ute und genießt dabei den Blick in die Runde.
Der Abstieg zur Staudammkrone des Lago di Naret (2.315 m) wird von uns in knapp 20 Minuten erledigt. Dort gibt es nach 44 Kilometern zurückgelegter Wegstrecke das zweite "Rifornimento grande". Neben der üblichen Kost genehmige ich mir, wie ein Italiener auch, einen Becher Rotwein. Danach werden die lästigen Steine aus den Schuhen entfernt, ehe es weiter Richtung Cortino (1.570 m), oberhalb des Sambucco-Stausees geht. Von dort führt ein zugewachsener Pfad hinauf zur Piatt du Sasell (2.089 m), man könnte (wie so oft) denken, daß es sich hier um eine Erstbegehung handelt. Aber Zeichen der Zivilisation, wie die in Form dieser Hütte, widerlegen diese Vermutung.
Im weiteren Anstieg zum Passo Sassello (2.336 m) steht auf einmal ein Mountainbike-Fahrer mitten in dieser Gesteinsschutthalde auf ca. 2.150 Metern Seehöhe. Für mich unbegreiflich! Aber er geht ziemlich zielsicher seinen Weg (der keiner ist) ins Tal an. Wir quälen uns weiter Richtung Paß und werden oben erstmal eine kurze Pause einlegen. Die Aussicht ist gigantisch, der Lago Ritom thront auf der anderen Seite des Leventina-Tales. Von dort sind es nur noch 11 Kilometer bis ins Ziel, aber dazwischen liegen nochmal rund 70 Kilometer. Eine unterhalb im Tal liegende Hütte halten wir für den nächsten Verpflegungspunkt, der 3,7 Kilometer vom Sassello entfernt sein soll. Im Abstieg merken wir jedoch, daß es sich um die Cna. di Lago handelt und wir weiter ins nächste Seitental müssen.
Dort werden am Lago della Valletta (1.976 m) zum x-ten Male die Trinkflaschen mit Wasser aufgefüllt. Eine Fahne hinter einer Alm deutet dann auf die Capanna Garzonera (1.973 m) hin. Ein kurz darauf folgendes "Rifornimento/Ravitaillement/Checkpoint 500 Meter"-Schild bestätigt uns den nächsten Verpflegungspunkt. Freundlicher Empfang, wie überall und während Ute sich schon mal am Buffett bedient, kümmere ich mich um den Hüttenstempel für mein Buch. Aus dem Gespräch mit den Helfern erfahren wir von Ute's zweitem Platz im Frauen-Klassement. Wir sind erstmal platt! Nur Olga Manko ist vor ihr! Julia Boettger stand zwar in der Vormeldeliste, war aber am Start auch nicht zu sehen. Von zwei weiteren Frauen wissen wir, daß sie noch hinter uns kommen und viel mehr dürften auch fast nicht gestartet sein.
Wir strahlen uns an, denn das ist eine schöne, zusätzliche Motivation um hier irgendwann gemeinsam im Ziel einzulaufen. Das es aber auch ganz schnell zu Ende sein kann, sehen wir an einem jüngeren Franzosen, der uns im Abstieg vom Passo Sassello noch überholte und jetzt wegen Problemen mit Herz und Atmung den Wettkampf aufgibt. Wir wünschen ihm alles Gute und verabschieden uns auch vom Hütten- und Versorgungspersonal.
Na, da haben wir wohl die Skier vergessen? Definitiv eine nicht bestenlistentaugliche Strecke.
Gut gelaunt nehmen wir den nächsten Anstieg in Angriff, die Sonne brennt jetzt ordentlich von oben, aber der traumhafte Fernblick läßt so manche Anstrengung vergessen. Im weiteren Verlauf folgen größere Schneefelder. Wir sind auf einem weiß-blau-weiß gekennzeichneten Wanderweg unterwegs, in der Schweiz bedeutet dies "Alpine Route". Es handelt sich also um eine Strecke durch wegloses Gelände mit Felsblöcken und Geröll. Wie soll man hier "rennen"? Der Schnitt sinkt auf geschätzte 2 km/h, da wir nur langsam durch diese Steinwüste stochern können. Wie das die schnellen Läufer hier machen ist uns schleierhaft. Der Spaßfaktor sinkt und meine vorsichtig erstellte Zeitprognose für die Ankunft in Faido wird aller halben Stunden von mir nach hinten korrigiert.
Im Valle di Cani ist es zwar mit seinen Bergseen und schroffen Gipfeln landschaftlich wunderschön, aber wir sind total bedient. Mit dem Erreichen des höchsten Punktes dieses Tales (2.534 m) werden dann die Alpinwege etwas besser und bevor es hinab zur Capanna Leit (2.257 m) geht, gönnen wir uns noch eine kurze Verschnaufpause auf einer Bergwiese. Ein Italiener denkt genauso und so ruhen für die nächsten zehn Minuten die geschundenen Beine und Füße.
Wir haben einen guten Überblick auf das vor uns liegende Läuferfeld, manche von ihnen haben da schon bis zu (geschätzten) drei Stunden Vorsprung auf uns. Beim Hinab zur Hütte lassen wir das Erlebte des Vorjahres Revue passieren. Damals waren wir die letzten Läufer, die 2:30 Uhr von der "Leit" über den Passo Campolungo nach Fusio aufgebrochen sind. Vielen Teilnehmern hatte 2012 das Wetter (u.a. drei schwere Gewitter) den Willen gebrochen, weiter zu machen. Wir wollten aber nicht aufgeben und wurden dann doch am frühen Morgen eines besseren belehrt - Abbruch! Der Veranstalter mußte den Lauf zur Sicherheit der noch im Wettbewerb befindlichen 27 Läufer beenden.
Das passiert heute schon erstmal nicht! Zu schön ist das Wetter und obwohl Ute am Morgen Gewitterwolken am Himmel entdeckt haben will, glauben wir beide an einen reibungslosen Ablauf der Veranstaltung. An der Hütte gibt es das "Rifornimento medio", also nicht das volle Programm an Essen und Trinken, deshalb hole ich beim Hüttenwirt neben dem Stempel auch noch eine Büchse Bier für 5 CHF. Der Führende Marco Gazzola ist schon 7:40 Uhr hier durch, da sind wir gerademal am Lago del Naret aufgebrochen und jetzt ist es kurz vor 15 Uhr! Zwölf Läufer kämen noch von der Capanna Garzonera herüber zur Leit, erfahren wir auf Nachfrage. Dann machen wir uns auf nach Faido, fast 1.700 Höhenmeter bergab, im Vorjahr noch bergauf! Wir wollen jetzt verlorene Zeit gutmachen und Ute gibt ein hohes Tempo vor. Wir überholen mehrere Läufer und nur einer kann (weil er immer wieder abkürzt) folgen.
Der Streckenverlauf ist zum Vorjahr leicht geändert, wir laufen die Serpentinen der Forststraße nach Dalpe (1.195 m) und nicht den Waldweg. Im Ort ist festliche Atmosphäre und die Streckenmarkierung führt direkt durch die Feiernden. Verdutze Blicke, Applaus und "Forza"- oder "Bravi"-Rufe entgegnen uns dabei. Kurz darauf sind wir wieder auf der Originalstrecke und ein Mofa-Fahrer begleitet uns und feuert uns von seinem Gefährt aus an. Von Bruno (der mit Martin und Oma in Faido auf uns wartet) weiß ich telefonisch, daß der große VP (mit Wechselsachen-Sack, Wasch- und Schlafmöglichkeit) nicht am Centro Sportiv, sondern gleich nach der Flußquerung des Ticino an einem Spielplatz in einer Turnhalle ist.
Blitzlichtgewitter beim Einlauf in Faido ... ... da die zweite Frau im Klassement ankommt!
In Faido (697 m) ist nach 77,5 Kilometern gegen 17:25 Uhr das uns zum größten Teil unbekannte Stück der Strecke geschafft. Die "Nordost-Biege", welche sich nach Faido anschließt, sind wir ja schon abgelaufen, was soll da noch passieren? Aber erstmal gibt es genug zu erzählen: wer ist wann hier durchgelaufen und auch das bisher Erlebte wird zum Besten gegeben. Waschen, Umziehen, Essen und Trinken, die Schuhe werden nicht gewechselt, nur die Socken. Es zeichnen sich aber auch schon Ansätze von Blasen an meinen Fußsohlen ab, obwohl ich Socken trage, welche Blasenbildung ausschließen.
Ein Helfer erzählt uns, daß ab 19 Uhr "Wasser kommt", ob hier oder weiter oben, wisse er nicht. Ich denke an zusätzliche Wasserstellen, die der Veranstalter einrichtet und Ute meint, sie brauche nicht duschen. Erst etwas später, als er mir auf seinem Mobiltelefon eine Wetterkarte von Faido zeigt, begreife ich, was er sagen wollte: Regen! Naja sieht ja immer noch recht freundlich aus da draußen!
In der Zwischenzeit bricht Uwe Herrmann mit Frank Wagner auf. Mit Uwe hatten wir schon mehrere Kilometer am heutigen Tag zusammen absolviert und ich sage ihm, daß wir ihnen in wenigen Minuten folgen werden. Wir verabschieden uns von Bruno, Martin und Oma Christine, für die wir viel zu wenig Zeit hatten und die jetzt den Postbus zurück nach Airolo nehmen werden. Da platzt auf einmal der "Chef" des Verpflegungspunktes mit der Nachricht der Unterbrechung des Wettkampfes ins Haus! Alles gute Zureden hat keinen Sinn, er läßt uns nicht mehr weg! Und wenig später sind wir froh über seine Entscheidung.
Es gießt und gewittert um die Wette! Ein Abbruch des Wettkampfes steht auf einmal im Raum! Eineinviertel Stunde nach uns kommt die drittplazierte Frau völlig durchnäßt in die Turnhalle. Jetzt wird es bestimmt nochmal eng mit Ute's zweitem Platz! Die Entscheidung der Wettkampfleitung über ein weiteres Vorgehen wird immer weiter hinausgeschoben. Erst heißt es 19:15 Uhr fällt eine Entscheidung, dann 19:30 Uhr, 20 Uhr und 21 Uhr. Da ist aber das Zeitlimit abgelaufen! Letztendlich verkündet der "Mann mit dem Telefon" gegen 19:45 Uhr die "Freigabe". Wir machen uns sofort auf die Socken, natürlich in Regensachen gehüllt.
Aber am Ortsausgang muß das Gummizeug wieder 'runter. Die Abkühlung durch den Gewitterguß war nur kurz und es herrscht schon wieder eine erdrückende Schwüle. Wir sind aber sehr flott unterwegs und der Bassa die Nara (2.123 m) wird diesmal direkt angesteuert, 1.532 Steigungsmeter auf 8,45 Kilometer. In Molare (1.488 m) basteln wir uns das Licht auf's Dach und in der Dunkelheit des Waldes erkläre ich Ute den Streckenverlauf des Vorjahres, wovon sie jedoch so viel versteht, wie ich von Gefäßchirurgie oder der Quantenfeldtheorie.
Eine kleine Schlafpause, oder besser gesagt den Versuch einer Schlafpause, gönnen wir uns auf dem weichen Untergrund im oberen Teil des Fichtenwaldes. Ständiges Hundegebell stört dabei unsere "Ruhe"pause. Der Lärm kommt von der Alpe Nara (1.932 m), wo Ställe mit Kühen oder Schafen sind, soviel weiß ich noch vom Vorjahr. Das aber die Hunde frei herumlaufen ist mir neu. Den Chinesen Jin Cao, der an der Alm wenige Meter vor uns läuft, haben sie als erstes "eingekreist". Aggressives Bellen und wildes Umherrennen der Kleffer machen die Situation unheimlich. Vielleicht wollen sie aber auch nur spielen? Den Spuk beendet eine ebenso aggressive, längere Ansage des Herrchens: "Bastardo, ..., aaargh, ..., blablabla, ...!". Unverletzt setzen wir unseren Weg danach fort und ich dachte schon, daß wir unsere Teleskopstöcke für den Nahkampf einsetzen müssen.
Am Paß verkündet der Wegweiser für den Wandersmann noch 35 Minuten bis zur Capanna Piandioss (1.860 m). Ist für den "Trailrunner" ja zu einfach, deshalb gibt es noch den Umweg über den Pizzo di Nara (2.231 m). Also die Wiese hoch zu vier (vom Sturm "enthaupteten") Markierungsstangen und im rechten Winkel dazu wieder 'runter. Endlich mal ein Gipfelerfolg, da ja meist bei solchen Veranstaltungen nur Pässe (als höchste Erhebungen) überquert werden.
Die Hütte Piandioss erreichen wir 23:45 Uhr. Ute legt sich auf einer harten Bank zur kurzen Ruhe, während ich die Daten des kommenden Streckenabschnittes studiere. Danach warmer Tee und leicht verdauliches Essen (zur Nacht) und schon geht es eine halbe Stunde später weiter. Die anfänglich gut zu laufenden Wege werden immer anspruchsvoller und der Abschnitt nach dem Passo Bareta (2.274 m) ist einfach nur Sch..ße! Die "Wege" sind sehr schmal und tief, das hohe Gras wächst seitlich in den Pfad und verdeckt so die auf dem Weg liegenden "Stolperfallen" in Form von größeren Steinen. Mehrere Bergbäche, die durch den Regen angeschwollen sind, müssen "durchwatet" werden. Zudem hat Ute mittlerweile die Orientierung komplett verloren und vermutet ein Umherirren im Kreis. Ich kann zwar auch nicht mehr alle (wenigen) beleuchteten Punkte in der Gegend zuordnen, aber einen groben Plan habe ich schon noch.
Im unteren Teil des Valle Santa Maria kann ich Ute mit Fachwissen über die Strecke beeindrucken: "Hier haben wir voriges Jahr Heidelbeeren gegessen.", "Jetzt kommt eine Holzbrücke.", "Dort stehen verlassene Häuser." und alles stimmt auch so. Da fühlt sie sich natürlich sicher! Aber genug geprahlt, mir geht es nämlich mittlerweile auch nicht mehr gut. Die Beine werden wacklig und der Kopf denkt auch nicht mehr das, was er soll - ist ja auch die zweite Nacht ohne Schlaf. Ute hätte gern eine Pause hier im Wald, glücklicherweise bietet sich nicht die Möglichkeit einer Rast, denn ich würde schon noch gern bis zum nächsten Punkt nach Acquacalda (1.756 m). Dort befand sich 2012 zwar nur ein Zelt, aber ich hoffe schon auf einen festen Unterstand und werde auch nicht enttäuscht. Eine warme Stube und freundliche Frauen empfangen uns.
Sonntag, 1:45 Uhr am Basso Bareta (2.274 m üNN). Letzte "Anhöhe" - nur noch 10 Kilometer!
Die Frage nach Essen und Trinken beantworten wir mit dem Wunsch nur mal kurz schlafen zu wollen. Ute geht dazu in den Nebenraum auf eine Matratze, ich versuche mein Glück in einem bereitstehenden Drehsessel, da ich nicht zu fest einschlafen will. Vielleicht sind es zehn Minuten "Abwesenheit" vom Geschehen gewesen, dann kann ich nicht mehr und ich muß erstmal was Essen und Trinken. Dabei komme ich ins Gespräch mit den im Raum Anwesenden, eine Streckenänderung hat es mittlerweile auch gegeben. Der Bogen über Passo della Mineira und Capanna Cadlimo fällt wegen Unwetterschäden auf diesem Abschnitt weg und es wird von der Cadagno "direkt" zum Lago Ritom weitergelaufen.
Ich bin schon ein wenig erleichtert, da wir auch aufgrund unseres Zwangsstopps in Faido wieder verstärkt auf das Zeitlimit achten müssen. Ich wecke Ute nach einer halben Stunde im dunklen "Schlafgemach", dort liegen jedoch noch drei andere Läufer und ich muß schon genau hinsehen, um nicht die Falschen aus dem Schlaf zu reißen. Ute wirkt erholt und so setzen wir kurz vor 6 Uhr (der Zeitschranke in Acquacalda) unsere Tour fort.
Die Kleiderwahl wird kurz nach unserem Start wieder von lang in kurz geändert. Wir genießen das Laufen auf ordentlichen Wegen und nehmen so frohen Mutes den vorletzten Anstieg des Wettkampfes zum Passo delle Colombe (2.381 m) in Angriff. Dabei hören und sehen wir auch zum ersten Mal auf dieser Runde Murmeltiere. Sie sind (wie immer) fett und trotzdem ziemlich schnell! Halb 8 ist der Paß erreicht, die obligatorischen Sonnenaufgangsfotos folgen und dann geht es im schnellen Laufschritt die Wiesen- und Steinwege hinab zur Alpe Carorescio (2.127 m). Dort empfängt uns schon von weitem Kuhgebrüll und Glockengeläut von unzähligen Rindviechern.
Die Steinstraße hinab zur Capanna Cadagno (1.987 m) nehmen wir auch recht zügig, so das wir 8:18 Uhr die Hütte erreichen. Im Vorjahr wurde hier noch gebaut, nun ist das Werk zu bewundern. Eine modern ausgestattete Hütte mit dem Flair einer Jugendherberge ist da entstanden. Wie immer geht es bei der Station sehr familiär zu. Liebevoll werden die Wünsche der Läufer erfüllt und für den ein oder anderen Schwatz ist natürlich auch noch Zeit. Nur mit den vorgegebenen Zeiten, die wir angeblich noch benötigen würden, kann ich mich nicht anfreunden. Da müssen wir schon schneller sein! Ich will vor 12 Uhr im Ziel sein, so mein Plan.
Durch die Streckenänderung kommt die nächste und letzte Verpflegung am Lago Ritom (1.850 m) in ziemlich kurzer Entfernung, bei einem Marathon sicherlich üblich, aber hier haben wir uns doch nun an längere Abschnitte zwischen den Labestellen gewöhnt. Nichtsdestotrotz wird auch hier nochmal der Anker geworfen und von einem der Helfer, der auch schon in Faido war, erfahren wir, daß sie die Nacht über die Strecke neu markiert haben. In drei bis dreieinhalb Stunden sind wir im Ziel, gibt er uns noch mit auf den Weg, als wir 9:15 Uhr weiterlaufen. Das ist doch viel zu spät, dann ist ja schon Nachmittag. Meine Gebietskenntnis wird jetzt geistig durchgepflügt und so erläutere ich Ute detailgetreu, wie ich mir die restliche Strecke zeitmäßig eingeteilt habe: eine Stunde bis hoch zum Pian Alto (2.239 m), eine weitere Stunde bis Buco di Ce (1.668 m) und von dort noch mal 'ne halbe bis dreiviertel Stunde ins Ziel.
Ute murrt, doch ich halte es für realistisch. Das erste Zwischenziel auf Pian Alto erklimmen wir genau im Zeitplan, nur Ute ist erstmal fertig und benötigt dringend eine kleine Erholungspause. Dann geht es aber umso flotter die Wiesen hinab zur Alpe di Lago (2.010 m) und weiter durch den Wald zur kleinen Bergsiedlung Buco di Ce. Es ist kurz vor 11 Uhr, wir liegen besser im Zeitplan, als gedacht. Doch Ute ist langsam völlig am Ende. Wir müssen das Tempo verringern und trotzdem hat sie Probleme mit den Füßen. Die Blasen, die wir beide seit Acquacalda (Kilometer 99,89) mit uns herumschleppen sind das geringste Problem. Durch die engen Pfade werden ihre Knöchel ordentlich in Mitleidenschaft gezogen und Ute verliert so langsam die Contenance. Details hiervon werden jetzt allerdings nicht erwähnt! Ich schlichte und beruhige, bin Missionar und Friedensengel - eine Art Dalai Lama in Sportsachen!
Es nützt nicht sehr viel, die Umleitung über Madrano (1.242 m) begründe ich mit der Baustelle am Fluß Canaria-Garegna, aber wie erkläre ich das "4 km"-Schild? Es gibt also noch eine größere Runde durch und um Airolo. Jetzt heißt es motivieren, da auch die Zielzeit von unter 38 Stunden, also vor 12 Uhr immer mehr in Gefahr gerät. Ja, wir müssen auch noch bis hinter zu unserem Hotel, in dem Ute gleich bleiben wollte, falls es bis dorthin gehen sollte. Doch ein kurz zuvor aufgestelltes "1 km"-Schild und noch 9 Minuten persönliches Zeitlimit revidieren ihre Meinung.
Am Hotel "Alpina" ist eine Zeitmessung angebracht, über die Ute zu allem Überfluß auch noch stolpert und fast stürzt. Kurze Aufregung, mehr nicht! Wirklich nicht!! Nach der Querung der Straße zum Gotthardpaß kommt uns auch schon Martin entgegengelaufen. Mit einer deutschen und einer Sachsen-Fahne winkt er uns dabei zu. Oma Christine schießt Fotos im Ortskern, während Bruno vorm Zielbogen auf uns wartet. Endlich da!! Unsere Startnummern werden abgescannt, langanhaltender Applaus und Glückwünsche der verhältnismäßig wenigen Zuschauer folgen. Warum das? Dann läßt der Veranstalter die Katze aus dem Sack: Ute ist die erste Frau und die einzige weibliche Zieleinläuferin der Langdistanz! Ihre "Konkurrentinnen" haben den Lauf schon vorher (auf der Strecke) beendet! Wir freuen uns natürlich noch mehr über diesen Erfolg und liegen uns noch alleweil in den Armen.
"Wir haben die ganze Nacht auf Euch gewartet!", meint der Organisator, als uns das Finisher-Geschenk in Form eines leichten Rucksacks überreicht. Ich entgegne ihm, wir hätten für die 4-Kilometer-Airolo-Umrundung am Ende des Wettbewerbs so lange gebraucht und wären auch lieber eher da gewesen. Während dieses Dialogs schlägt die Kirchturmuhr zwölf Mal, ich stoppe (verspätet) meine Uhr, den daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht! Was hatte ich Ute zuletzt noch angetrieben, damit wir vor um 12 das Ziel erreichen und dann schaue ich nicht mal auf die Zeitmessung!
Eskorte für die Frauensiegerin wenige Meter vor dem Zielbogen.
Kommentar von Ute:
Ankommen, einfach nur vom Start bis zum Ziel unterwegs zu sein und nicht aufzugeben, war mein bzw. unser Motto für diesen Trail. Nun stehe ich als Siegerin bzw. als erste aber auch letzte Frau in der Rangliste der Finisher. Bei weitem bin ich nicht mit den Eliteläuferinnen zu vergleichen, aber ich habe mich durchgekämpft bis über die Ziellinie. Der Kopf spielte die Hauptrolle, alle anderen Körperteile waren Nebendarsteller. Diese wollten sich zwar ständig in den Vordergrund rücken mit Magenproblemen, Blasen oder schmerzender Achillessehne, aber der Hauptdarsteller erledigte seine Aufgabe mit Bravur. Momentan kann ich mich mit einer Wiederholung des Ganzen nicht anfreunden, dafür war die Anstrengung zu groß, aber wer weiß ...
Ergebnisliste: 89 Angemeldete - 71 Starter - 22 Finisher (30,99%)
1. Gazzola, Marco (Salomon Agisko - SUI) - 1. M40 - 22:00:20
2. Calmbach, Uli (Donzdorf / Team Salomon) - 2. M40 - 25:19:15
3. Grimpe-Luhmann, Niels - (Laufen - SUI) - 3. M40 - 29:12:31
4. Gachoud, Frederic (Pont-Veveyse - SUI) - 4. M40 - 31:31:29
5. Baretta, Emanuele (ITA) - 5. M40 - 31:31:34
6. Bourquin, Pascal (Ski-Club Moutier - SUI) - 6. M40 - 31:33:41
7. Magnoni, Fabrizio (ITA) - 1. M55 - 34:38:56
8. Sboarina, Gabriele (RC Bellinzona - SUI) - 1. M30 - 34:38:56
9. Fugiel, Jacek (Röhrmoos - POL) - 7. M40 - 34:44:42
10. Mackow, Sebastien (FRA) - 2. M30 - 35:11:45
11. Merel, Chris (FRA) - 3. M30 - 35:11:59
12. Herrmann, Uwe (Tübingen) - 8. M40 - 35:43:27
13. Rovelli, Robert (ITA)- 9. M40 - 37:13:01
14. Melicharek, Dominik (SVK) - 4. M30 - 37:13:53
15. Ackermann, Martin (SUI) - 2. M55 - 37:13:59
16. Herfurt, Ute (LV Limbach 2000) - 1. W40 - 37:56:25 (Frauensiegerin)
17. Delling, Thomas (LV Limbach 2000) - 10. M40 - 37:56:26
18. Cao, Jin (Norges Bank Sports Asso - CHN) - 5. M30 - 38:36:45
19. Cogo, Massimiliano (G.S. Avis Ivrea - ITA) - 11. M40 - 40:03:32
20. Herrig, Henning (Oberhausen) - 6. M30 - 40:21:44
20. Sadowski, Hans-Günter (Oberhausen) - 3. M55 - 40:21:44
20. Lux, Arno (VGDS Ostbelgien - BEL) - 12. M40 - 40:21:44
Fazit:
Eine Veranstaltung ohne großes Brimborium! Das ganze Drumherum wird auf das Wesentliche beschränkt, alles findet in einem eher familiären Ambiente statt und trotzdem kommen die Elitesportler (wie Lizzy Hawker und Adrian Brennwald 2012, bzw. Olga Manko und Marco Gazzola 2013) an den Start. Eine erstklassige Streckenmarkierung, weit auseinanderliegende Verpflegungspunkte (bis 20 km) und ein Profil im ständigen Auf und Ab prägen dabei den Trail Ticino. Die vielen, zu langen, technisch schwierigen Passagen verlangen eine gewisse geistige Fitness, um diesen Wettkampf auch beenden zu können. Nicht umsonst liegt die Ausfallquote so hoch! Wer jedoch während des Laufes noch "den Kopf heben kann", wird mit einem phantastischen Panorama belohnt. Auf alle Fälle schwer verdiente Quali-Punkte für den UTMB, denn der ist meines Erachtens "leichter"!!!
Bilder vom Trail Ticino 2013
Link zu "Livetrail.net" (Tabelle mit Zwischenzeiten)
So war es 2012!
Veranstalterseite: www.trail-ticino.ch